Entwickelt sich mein Kind altersgemäß? Diese Frage brennt vielen Eltern immer wieder unter den Nägeln. Nadine Thonagel ist seit 1998 ausgebildete Ergotherapeutin und erklärt, auf was zu achten ist.
Foto: Kristin Plumbohm
Ergotherapeutin Nadine Thonagel
Was sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung des Kindes?
Wenn man ein Haus baut, fängt man immer mit dem Fundament an. Das ist wichtig, damit das Eigenheim am Ende sicher steht. Die Funktion des Fundaments lässt sich auf die Entwicklung des Kindes übertragen. Wichtige Grundlage dafür ist eine entspannte Schwangerschaft mit gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung. Es folgt eine natürliche Geburt, die im Bestfall zehn bis zwölf Stunden andauert. In dieser Zeit kann sich das Kind auf die neuen Lebensbedingungen vorbereiten. Nehmen Sie mit ihrem Kind Blickkontakt auf, wenn sie mit ihm reden und schenken Sie ihm viel Aufmerksamkeit. Übrigens: Transportmittel wie Tragetücher und Trageschalen sollten nur für ihren Zweck genutzt werden von A nach B zu kommen und nicht darüber hinaus. Die Haltung, die Kinder durch das Tragen einnehmen, hemmt sie in ihrer Entwicklung. Auch das Hinsetzen und Andeuten von Laufschritten bei Kindern, wenn diese Schritte noch nicht dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen, sind nicht förderlich. Die Wirbelsäule kann sich verschieben und so entstehen X- oder O-Beine.
Was, wenn das Kind nicht auf natürliche Weise zur Welt kommt oder eine verzögerte Entwicklung zeigt?
Jedes Kind, das nicht auf natürlichem Weg geboren werden kann oder Auffälligkeiten zeigt, würde ich so früh wie möglich zum Osteopathen schicken. Der untersucht das Kind und kann Unstimmigkeiten mit wenigen Handgriffen ausgleichen und viele Spätfolgen entstehen erst gar nicht. Die Zeitfenster in der Entwicklung sollten ansonsten auf jeden Fall beachtet werden. Kinder sind nicht zu faul oder mögen eine Bewegung nicht. Wenn das Kind etwas nicht macht, bedeutet das, ein Reflex ist nicht richtig ausgeprägt und das hat seine Gründe.
Wichtige Entwicklungsschritte im ersten Jahr:
- Kopfkontrolle bis 4 Monate
- Drehen von Rückenlage auf die Seite und den Bauch ab 6 Monaten
- Robben und Krabbeln ab 8 Monaten
- Freies Sitzen und Stehen im 10. Monate
- Freies Laufen mit ca. 1 Jahr
Kinder sind unterschiedlich - manche schneller, manche gemütlicher! Die Monatsangaben sind nur Richtwerte, keine Regeln.
Was hat es mit diesen Reflexen auf sich und welche Bedeutung haben sie für die Entwicklung des Kindes?
Wenn ein Baby geboren wird, ist es allein nicht überlebensfähig. Das Muskel- und Skelettsystem ist noch instabil, es muss erst lernen sich gegen die Schwerkraft aufzurichten. Auch sind alle Sinne zwar angelegt, aber noch nicht ausgereift. Die Natur hat diese Entwicklung gesichert durch frühkindliche Reflexe, die automatisch nacheinander aktiviert und wieder gehemmt werden. Dies passiert vor allem in den ersten drei Lebensjahren. So gibt es zum Beispiel einen Saugreflex, der die Ernährung sichert oder den ATNR (Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex), der dem Baby das Drehen von Rückenin Bauchlage ermöglicht. Diese frühkindlichen Reflexe werden in den U-Untersuchungen bis zum 6. Lebensmonat getestet, ihre An- und später Abwesenheit sind Reifezeichen für die Funktionstüchtigkeit des Gehirns. Das Fortbestehen frühkindlicher Reflexe über das 2. Lebensjahr hinaus verursacht Lern- und Verhaltensstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Augenmuskeldysfunktionen, Sprachschwierigkeiten, fein- und grobmotorische Schwierigkeiten und Störungen im Gleichgewicht.
Wie merke ich, dass mein Kind ernsthafte Entwicklungsprobleme hat?
Vertrauen Sie viel auf ihr Bauchgefühl. Die meisten Mütter merken instinktiv, dass etwas mit ihrem Kind nicht in Ordnung ist. Gut aufgehoben ist man auch beim Delphi, Feldenkrais, bei der Babymassage oder im Musikgarten. Hier kann man sehen, wie die anderen Kinder entwickelt sind und wie das eigene Kind auf die Vorgänge im Kurs reagiert. Durch Babykurse und Spiel zu Hause gewinnen die Kinder immer mehr Kontrolle über ihren Körper, so dass die frühkindlichen Reflexe gehemmt werden. Bestehen Restreaktionen über das erste Lebensjahr hinaus fällt das oft nicht auf, da bei älteren Kindern der Reflexstatus oft nicht überprüft wird. Es gibt aber mittlerweile ein Screening-Test für Ärzte, um die neuromotorische Reife auch bei älteren Kindern festzustellen.
Kann ich mich darauf verlassen, dass Entwicklungsstörungen bei den U-Untersuchungen erkannt werden?
Bei den U-Untersuchungen fallen oft nur Kinder mit extremen Unstimmigkeiten in der Entwicklung auf. Die leichteren Fälle rutschen durch. Auch die Einschulungsuntersuchungen sind nicht besonders gut. Für die Untersuchung bräuchte es generell mehr Zeit. Es müsste getestet werden, ob die Reflexe der Kinder ausgebildet sind. Solche Tests gibt es bereits in anderen Bundesländern. Sachsen-Anhalt hat es für sich bisher abgelehnt, gezielte Untersuchungen in diese Richtung einzuführen. (kp)